Frauenspezifische Psychiatrie
«Wir sehen Frauen in ihrer ganzen individuellen Lebensrealität»
Die Klinik Meissenberg ist die schweizweit einzige psychiatrische Klinik exklusiv für Frauen. Chefärztin Dr. med. Kamila Dudová-Nakazi spricht über die Vorteile eines geschützten Raumes für Frauen mit psychischen Erkrankungen, darauf zugeschnittene Therapieangebote – und wie die Klinik Meissenberg diesen auch organisatorisch gerecht wird.

Sie sind seit November 2024 Chefärztin der Klinik Meissenberg. Können Sie uns etwas über Ihren Werdegang erzählen und warum Sie sich für die Frauenpsychiatrie entschieden haben?
Dr. med. Kamila Dudová-Nakazi: Ich bin Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und beschäftige mich seit vielen Jahren mit psychischen Erkrankungen und deren Facetten und Auswirkungen bei Frauen. Ich habe in Deutschland und vor allem in der Schweiz an der Universitätsklinik in Bern gearbeitet und dort meine psychiatrisch-psychotherapeutische Ausbildung absolviert. Ich bin seit fast 30 Jahren im Fachbereich tätig und bin seit mehr als 20 Jahren Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Ich habe unter anderem in der Klinik Zugersee mehrere Jahre in leitender Position gearbeitet und später während 15 Jahren in meiner eigenen Praxis mit frauenspezifischem Schwerpunkt. Zusätzlich habe ich den psychiatrischen Konsiliardienst an der Hirslanden Andreasklinik Cham initiiert und durchgeführt. Seit mehreren Jahren bin ich Dozentin für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie an der SHI Schule in Zug. Und seit vielen Jahren engagiere ich mich im Vorstand der Zuger Ärztegesellschaft standespolitisch. Die Schweiz und der Kanton Zug sind für mich und meine Familie Wahlheimat.
Warum ist es so wichtig, psychische Erkrankungen bei Frauen gesondert zu betrachten?
Wir wissen: Frauen erleben psychische Probleme anders als Männer. Frauen erkranken z. B. viel häufiger an Angst, Depression, Essstörungen. Frauen haben vielfach andere Symptome als Männer, häufig im Kontext mit dem weiblichen Lebenszyklus. Deshalb braucht es einen individuellen Ansatz und spezialisierte Behandlungsangebote …
… Wie auch eine dedizierte Klinik für Frauen?
Viele unserer Patientinnen haben traumatische Erfahrungen durchlebt, etwa durch Missbrauch in der Kindheit, häusliche Gewalt oder Mobbing. Sie fühlen sich in einer Frauenklinik oft sicherer und können offener über ihre Probleme sprechen. Ausserdem gibt es viele psychische Erkrankungen, die bei Frauen anders verlaufen als bei Männern oder die durch hormonelle Veränderungen beeinflusst werden. Wir sind als frauenspezifische psychiatrische Klinik auf diese Besonderheiten spezialisiert und können gezielt darauf eingehen.
«Frauen erleben psychische Probleme anders als Männer. Deshalb braucht es einen individuellen Ansatz und spezialisierte Behandlungsangebote.»
Dr. med. Kamila Dudová-Nakazi
Die Klinik Meissenberg ist europaweit eine der wenigen psychiatrischen Kliniken exklusiv für Frauen. Welche Leistungen bieten Sie an?
Wir bieten eine breite Palette an Behandlungen an, in welchen die Pflege, Medizin, Psychologie und die Spezialtherapie eng zusammenarbeiten. Dazu zählen die hochfrequente Psychotherapie, Bewegungs- und Kunsttherapie, Ergotherapie, diverse Gruppentherapien und Sportprogramme. Dazu bieten wir spezialisierte Therapieprogramme für Frauen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Schmerzstörungen, Essstörungen, Depression, Zwangs- und Angsterkrankungen. Wir haben ausserdem eine spezialisierte Therapieabteilung für Emotionsregulationsstörungen in der Klinik, die nach dem DBT-Konzept von Marsha Linehan arbeitet. Hier wird insbesondere Patientinnen mit Borderlinesyndrom eine strukturierte und evidenzbasierte Psychotherapie angeboten.
Neben den vielfältigen psychotherapeutischen Angeboten setzt die Klinik Meissenberg auch auf weitere Behandlungsmethoden. Welche zusätzlichen therapeutischen Ansätze stehen Ihren Patientinnen zur Verfügung?
Wir bieten ein breites Spektrum an biologischen Therapieverfahren an. Dazu zählen eine frauensensible Psychopharmakotherapie, Lichttherapie, Biofeedback und Hirnstimulationstherapie. In der Klinik Meissenberg legen wir grossen Wert auf eine ganzheitliche und evidenzbasierte Behandlung. Wir haben eine ausgezeichnete Küche, mit mittags vier Menüs zur Auswahl, die für das leibliche Wohl sorgt. Und nicht zu vergessen: die traumhafte Lage, mitten in der Natur, mit dem schönen Blick auf den Zugersee und die Alpen, am Fusse des Zugerbergs mitten in einem schönen Garten. Diese Naturnähe ist für den Heilungsprozess sehr förderlich.

Wie zeigt sich dieser ganzheitliche Ansatz in der konkreten Behandlung der Patientinnen?
Neben der psychischen Symptomatik berücksichtigen wir auch körperliche Faktoren wie Stoffwechselstörungen oder hormonelle Veränderungen, wie etwa in der Menopause, welche die psychische Gesundheit ebenfalls beeinflussen können, und setzen auf sorgfältige Diagnostik. Individuelle Ressourcen und Bewältigungsstrategien der Patientinnen werden wertgeschätzt und in die Therapie einbezogen. Dabei orientieren wir uns an wissenschaftlich fundierten Behandlungsempfehlungen.
Sie arbeiten mit Patientinnen, die häufig eine komplexe Biografie mitbringen. Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich daraus?
Die individuelle Biografie einer Patientin zu berücksichtigen, ist zentral. Wir begegnen in unserer Arbeit vielen Patientinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder Emotionsregulationsstörungen. Diese stehen oft in direktem Zusammenhang mit frühen Traumata. Es ist daher wichtig, die gesamte Lebenssituation der Frauen in den Blick zu nehmen. Und die Patientinnen brauchen Ruhe, Zeit und Vertrauen, um sich mit diesen schwierigen Themen auseinandersetzen zu können.
Das heisst?
Wir schauen genau hin: Wie sieht das soziale Umfeld aus? Gibt es Unterstützung durch Familie oder Freunde? Und auch die finanzielle Situation spielt eine grosse Rolle. Wir wissen, dass Frauen weltweit eher von Armut betroffen sind als Männer. Das hat viele Ursachen, etwa fehlende Ausbildung oder Erwerbsunterbrechungen aufgrund von Kindererziehung und Familienarbeit. Wer lange zu Hause war, hat es oft schwer, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Gemeinsam mit unseren Patienten schauen wir uns an, welches Hilfsnetzwerk sie auch nach der Entlassung brauchen. Unsere Sozialberatung bietet hier gezielte Hilfe.

Die Ursachen psychischer Erkrankungen manifestieren sich also auch in gesellschaftlichen Rollenbildern?
Absolut. Wenn Männer erkranken, ist oft die Frau da, die das System aufrechterhält. Aber wenn eine Mutter kleiner Kinder psychisch krank ist, wird es kompliziert. Der Vater ist häufig berufstätig, und wenn keine weiteren Unterstützungsstrukturen existieren, gerät das ganze Familiensystem in eine Krise. Ausserdem sind Frauen häufiger Mehrfachbelastungen ausgesetzt, sei es durch den Spagat zwischen Familie und Beruf, sei es in der Pflege und Betreuung von betagten und pflegebedürftigen Angehörigen. Wir wissen ausserdem, dass für Männer eine Ehe ein protektiver Faktor ist. Dies konnte für Frauen zumindest in den Studien so nicht nachgewiesen werden. Gute Bildung, ein tragfähiges soziales Netz, finanzielle Sicherheit und eine sichere Umgebung sind protektive Faktoren, sowohl für die körperliche als auch die psychische Gesundheit von Frauen.
Wie können betroffene Frauen in solchen Situationen unterstützt werden?
Es braucht ein Netzwerk aus professioneller Betreuung, sozialer Unterstützung und oft pragmatischen Lösungen im Alltag. Therapie ist wichtig, aber wenn die Patientin nach der Sitzung nach Hause geht und dort der ganze Alltag auf sie einstürzt, ohne dass sie Hilfe hat, kann sie sich kaum stabilisieren. Deshalb suchen wir gemeinsam mit den Patientinnen nach Lösungen: Gibt es Verwandte oder Freunde, die helfen können? Welche staatlichen oder privaten Unterstützungsangebote kommen infrage, wie etwa die Psychiatriespitex? Wie können die Angehörigen unterstützt werden? Welche Selbsthilfegruppe kann zusätzlich hilfreich sein?
Gibt es spezielle Programme oder Strategien, die sich besonders bewährt haben?
Wir legen grossen Wert auf eine individuell massgeschneiderte Behandlung. Jede Patientin erhält ein Therapieprogramm, das sich nach ihren persönlichen körperlichen und psychischen Bedürfnissen orientiert. Unser Team besteht aus Ärzten, Pflegefachkräften, psychologischen Psychotherapeutinnen, handlungsorientierten Therapeuten, Sozialarbeitern und weiteren Fachkräften, die eng zusammenarbeiten. Rechtzeitig bieten wir auch Unterstützung bei der Tagesstruktur nach Austritt an.
«Wir legen grossen Wert auf eine individuell massgeschneiderte Behandlung. Jede Patientin erhält ein Therapieprogramm, das sich nach ihren persönlichen körperlichen und psychischen Bedürfnissen orientiert.»
Dr. med. Kamila Dudová-Nakazi
Wird dies auch organisatorisch gestützt?
Unser Tridem-Führungsmodell spielt hier eine zentrale Rolle. In vielen Kliniken sind ärztliche, psychotherapeutische und pflegerische Bereiche oft getrennt, was zu Informationsverlusten und weniger effizienten Behandlungsabläufen führen kann. Das Tridem-Modell sieht vor, dass jede Patientin von einem interdisziplinären Team betreut wird, das aus einer Ärztin oder einem Arzt, einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten und einer Bezugspflege besteht. Diese drei Bereiche arbeiten eng zusammen und gewährleisten, dass die Patientinnen umfassend betreut werden. Dadurch können wir schneller und gezielter auf die Bedürfnisse der Patientinnen eingehen.
Setzt hier auch die Privatabteilung der Klinik Meissenberg an?
Die Privatabteilung in der Villa Paracelsus bietet ein besonders intensives und individuell zugeschnittenes Therapieangebot. Patientinnen profitieren von einem ruhigen, geschützten Umfeld mit erweiterten Behandlungsansätzen, darunter auch zusätzliche Gruppentherapien und spezielle psychotherapeutische Ansätze wie Schematherapie. Dieses Setting ist besonders für Frauen geeignet, die eine intensive Betreuung in einer angenehmen Umgebung wünschen. Ausserdem wird eine ausführliche somatische Begleitdiagnostik bei entsprechender Indikation durchgeführt. Auf der pharmakologischen Seite kommen neben der evidenzbasierten, frauensensiblen Psychopharmakotherapie auch Phytotherapeutika, NADA-Ohrakupunktur und Aromatherapie zum Einsatz. Regelmässige Massagen fördern zusätzlich den Entspannungsprozess. Die Patientinnen haben Möglichkeiten von Tanz- und Bewegungstherapie, Kunst- und Ausdruckstherapie, Ergotherapie, wir haben ein Fitnesscenter und Sportangebote im Hause.
Meissenberg Privé
Für höchsten Komfort und beste Versorgung geniessen privat und halbprivat versicherte Patientinnen in unserer Klinik exklusive Zusatzleistungen. Unsere Angebote fördern die Erholung und das Wohlbefinden während und nach der Behandlung.
Wie sehen Sie die Zukunft der Frauenpsychiatrie?
Frauenpsychiatrie muss sich weiterentwickeln und sich an neue Herausforderungen anpassen. Wir wissen heute viel mehr über geschlechtsspezifische Unterschiede in der psychischen Gesundheit als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das sollte sich in den Behandlungsangeboten widerspiegeln. Zudem wünsche ich mir, dass es mehr spezialisierte Angebote gibt – nicht nur in stationären Einrichtungen, sondern auch in der ambulanten Versorgung. Frauen sollen leichter und schneller die richtige Unterstützung erhalten.
Setzen Sie auch als Chefärztin diese Schwerpunkte?
Ja – mit dem Ausbau unseres fachärztlichen, frauenspezifischen Ambulatoriums, das in die Klinik eingegliedert ist und von einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie geleitet wird. Wir haben es erweitert, um sowohl eine intensive Vorbehandlung vor einer stationären Therapie als auch eine engere Nachbetreuung zu ermöglichen. Gerade im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel ist das entscheidend: Wenn wir Patientinnen ambulant engmaschig betreuen, können wir in manchen Fällen stationäre Aufenthalte verkürzen oder sogar vermeiden. Und eine engmaschige ambulante Nachbehandlung kann die Wahrscheinlichkeit eines stationären Wiedereintritts reduzieren. Das entlastet das gesamte System.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Klinik Meissenberg?
Ich wünsche mir, dass die Klinik Meissenberg weiterhin eine führende Rolle in der Frauenpsychiatrie einnimmt und dass wir unsere spezialisierten Angebote weiter ausbauen können. Wir müssen genau hinschauen, zuhören und ernst nehmen – nur so können wir eine gute Behandlung sicherstellen. Und natürlich wünsche ich mir, dass sich die Frauen weiterhin bewusst für die Klinik Meissenberg entscheiden. Weil sie wissen, dass sie hier nicht nur eine Diagnose erhalten, sondern als Mensch in ihrer ganzen individuellen Lebensrealität gesehen und verstanden werden und eine massgeschneiderte Hilfe erhalten.
Text Christoph Widmer
Foto Daniel Brühlmann